Höhepunkt, wo bleibst du?

Auszug aus «Sieben-einhalb Verzählungen», Nr. Sieben

Auch Jenny braucht jetzt ein Ventil, seine Nummer drei, die älteste. In drei Tagen wird sie die Latte noch höher legen, wird sie ihren Rekord brechen müssen, wird sie sich katapultieren lassen, in neue Sphären, in die Elite Europas. Was hat Taub nicht schon investiert, über die Jahre hinweg, ins sportliche Glück der Jenny, in ihr Training an der Hochschule in Magglingen, sie hat das Zeug zur Spitzenposition und sie hat ihre Sternstunden. In der Tat, wenn alles zusammenfindet, was zusammenfinden muss, dann übertrifft sie alle, dann holt sie eben die Sterne vom Himmel, dann fliegt sie über die Latte, elegant, mühelos, als wäre sie ein knochenloses, luftiges Wesen aus einer anderen Welt, das sich seinem Hindernis anpasst und dieses schwerelos überströmt. In diesen Momenten der Glorie setzt die Jenny Massstäbe und wird zur Stilistin unter den Stabhochspringerinnen.

Wäre da nur dieser Haken nicht! Denn eines bietet die Jenny nicht, es fehlt ihr an Konstanz, sie hält dem Druck im Wettkampf nicht stand, zumindest nicht immer. Zugegeben, sie hat es geschafft, dann und wann in die vorderen Ränge der Juniorinnen vorzudringen, aber es ist ihr blöderweise nur gelegentlich gelungen. Taub hat sich alles Mögliche einfallen lassen, Psychologen mussten her, Esoteriker auch, wer immer Hilfe versprach. Allesamt versichern sie wortreich, dass Jenny Fortschritte macht, kleine, aber stetige, ja, ja, sie kommt doch auf einen grünen Zweig, oder?

Grüne Zweige sind Taub nicht genug und Fragezeichen mag er gar nicht, Zweifel sind das schlimmste Gift, vor allem jetzt, wo die grosse Chance kommt: Jenny kann nachrutschen, vom Ersatzplatz. Sie fährt an die Europameisterschaft, an die richtige, zum ersten Mal und nicht mehr als Juniorin. Vielleicht entpuppt sich gerade diese Ausgangslage als ihr Glück, dass sie nämlich nicht damit gerechnet hat, noch nachnominiert zu werden und hinfahren zu können und dass es in ihrem Kopf nicht schon seit Wochen schwirrt vor lauter Erfolgsdruck und Versagensängsten.

Aber was tut man denn so kurz vor der Abfahrt, um nicht dennoch verrückt zu werden? Der Vater und sein Ehrgeiz werden kaum beruhigen, Jenny weiss das, nur hat sie keine Alternative und vielleicht schaffen der Neuenburgersee und seine Winde ja Abhilfe, sie werden ablenken, sie werden die bösen Gedanken davontragen. Jenny nimmt die Einladung ihres Vaters an, zum Segelausflug am Jurasüdfuss und steigt in Biel/Bienne ins väterliche Auto. Taub drückt aufs Gas, keine vierzig Minuten dauert die Fahrt nach Chevroux, bestes Segelwetter, warmer, heftiger Südwind: Der Scirocco hat die Alpen überwunden, Windstärke 6, nichts für Anfänger. Wir werden fliegen, Jenny, fliegen!

Voll aufdrehen muss Taub den Motor der Segeljacht, selbst seine Lightning, mit Hightech vollgestopft, kommt ins Ächzen. Irgendwie geht es, irgendwie gelingt ihnen die Ausfahrt aus dem engen Segelhafen, gegen die launischen Gewalten der Seitenwinde. Einmal aus den Molen heraus stoppt Taub den Motor und setzt die Segel, energisch und grosszügig, sogar das Vorsegel zieht er hoch, weit nach oben, trotz heftiger Böen. Was will er nur, was treibt ihn an?

Wozu habe ich so viel investiert, fragt sich Taub, in die Auswahl eines sturmtüchtigen Bootes, des sportlichsten Typs, für die allerpfiffigsten Winde, wozu habe ich die vielen Kurse und Turns absolviert, auch bei miesem Wetter? Soll sich ein Taub beeindrucken lassen, wird mich das bisschen Südwind unterkriegen? Never. Die Jenny soll sehen, wie man kämpft, wie man den Kurs hält, wie man keine Kompromisse macht, nicht beim Tempo, nicht am gesetzten Ziel, nicht an den Plänen, die man sich im Kopf präzise zurechtgelegt hat.

Die Lightning krengt wie nie, beim Wenden flattern die Segel, nicht wie üblich, nein, sie knallen ohrenbetäubend an die Masten und gegen sich selbst in ihr brettiges Tuch. Triefend nass vor Gischt ist schon lange alles, ihre Kleider, ihr Haar und vor allem die Schoten, sie sind auch mit den Handschuhen kaum zu packen. Das Ziehen und Reissen ist härteste Arbeit.

Siehst Du, Jenny, na? Siehst du, brüllt der Taub gegen die Winde an und zieht die Jenny zu sich, spürst du, wie uns alles gehorcht, einfach alles? Wir sind rasend schnell, wird sind gut, wir sind besser, wir sind klüger als der Widersacher! Was ihn stark macht, macht auch uns stark, macht uns stärker noch. Wir machen seine Waffen zu den unsrigen, ha! Nichts kann er uns anhaben, rein gar nichts, im Gegenteil. Hart mag er uns anpacken – wie hart auch immer –, sputen müssen wir uns, es geht an die Grenzen, aber wir bleiben unantastbar, nichtsdestotrotz. Wie das Wort passt: Nichtsdestotrotz. Schreib es dir hinter die Ohren, meine Liebe, es ist ein Zauberwort. Wenn dich bald der Stab wieder in die Luft hievt, wenn sich seine Spannung und Energie auf dich überträgt und wenn die Latte immer noch über dir liegt und deiner spottet, obwohl du alles gegeben hast, um sie zu überwinden, dann sprich das Zauberwort: Nichtsdestotrotz!

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