Der Mord an ihrem Gatten hat Mama nicht verbittert, er hat auch ihre Prinzipien nicht erschüttern können, wie auch, wenn sich das Recht durchsetzt und erst noch von allein. Geweint hat sie schon, dem Gram hat sie lange Raum gelassen, aber hinter dem Leid hat sie den Teufel nicht ausgemacht und auch kein böses Schicksal. Die Prinzipien sind ihr seither erst recht eine Hilfe und heilig, sie weisen den Weg, sie sollen den Menschen das Zusammenleben leichter machen, trotz des vielen Unheils, ein Zusammenleben, das allen dient. «Passts fier olle, nocha passts o fier mi», hört man die Mama oft sagen, das Prinzip aller Prinzipien, es ginge allen gut, lebte eine jede und ein jeder danach. Solch Einsicht kommt von weit her, wenn Mama von den Prinzipien spricht, holt sie den Dialekt ihrer Kindheit hervor, die Sprache ihrer Ahnen.
Seit Papis Tod helfen die Brüder auf dem Hof, die älteren, beinahe erwachsenen tun es widerwillig, sie sind ihrer Freizeit beraubt, aber sie mögen sich der Mama nicht verweigern, jeder muss anpacken, wenn es an den väterlichen Kräften fehlt. Logisch spannen sie, wenn immer es geht, den kleinen Zenz ein, lassen ihn die Drecksarbeit machen, in den Ställen, hinter dem Heuwagen und im Gemüsegarten. Die Mama muss viel schlichten, sie hört sich den Streit an, den hausgemachten und denjenigen, welche die Söhne von der Schule nach Hause tragen. Alles tut sie, um ihre Prinzipien zu vermitteln, ihren Glauben, dass jede Gemeinschaft solider Regeln bedarf. «Wos man vårspricht, bleibt man o schuldig», sagt sie dann, oder: «Isch dår ondere in Recht, nocha nimms’n nit weg.» Und das Gezänke mag sie gar nicht haben: «Dår groaße Bruader vom Schimpfen isch dor Respekt», ruft sie in Erinnerung und bittet, sich in die Haut des anderen zu versetzen, bevor man über ihn herzieht. Für alles gibt es ein Prinzip, oder auch dagegen, so reimt es sich die Mama zusammen, viele seien schlicht unerlässlich wie dasjenige gegen die Volkskrankheit des Lügens und Betrügens: «Wenns in ondern weah tuat, verdrahnt man die Wohrheit nit!»
Mamas Regeln sind nicht toter Buchstabe, das hat Zenz wohl verstanden. Ganz am Anfang hat er ihnen Leben einzuhauchen versucht, mehrmals hat er Luft geholt, wenn vielleicht zu wenig tief.
Einmal in der Schule ist er hingestanden, die anderen hatten einen Kameraden in die Enge getrieben, immer wieder und einfach nur zur Belustigung. Ein Mobbing, aber wer wollte solch üblen Geschichten schon viel Beachtung schenken, wer wollte sie schon deutlich beim Namen nennen? Ein Kind mit ausländischen Wurzeln, es mag nicht überraschen, da hapert das Zusammenleben, was ist denn schon dabei? Zenz hat den Mund aufgemacht, hat sich gewehrt, er hat versucht, den anderen Einhalt zu gebieten und ihrer Quälerei ein Ende zu setzen. Wenig hat es genützt. Der Tamilenbub hat ihm bedeutet, sich doch bitte aus der Sache herauszuhalten, es werde nur schlimmer. Also bleibt immer das bisschen Schlimmheit, einmal mehr, einmal weniger, folgert Zenz, man muss sich wohl damit abfinden, oder? Zu dumm, den einen triffts, den anderen nicht.
Die Brüder haben sich um Mamas Prinzipien nicht geschert: Die soll nicht den Pfarrer spielen, ihre Sprüche bringen uns nicht weiter, im Gegenteil! Unser Leben ist beschwerlich genug, es braucht nicht noch komplizierter zu werden. Passen für alle, wer soll sowas hinkriegen? Mutter Theresa vielleicht. Aber die ist eine Heilige. Mütter haben das wohl so an sich, wer soll daraus schlau werden?
Endgültig verwirrt hat den Zenz sein letzter Versuch. Schauplatz Sport: die Schülerolympiade. Er hat ganz vorne gelegen, vor allen anderen, insbesondere vor Köbi, dem Sohn des Schulleiters. Und er hat ihn auch in der letzten Disziplin geschlagen, am Reck. Auf einmal ist alles anders, die Resultate manipuliert, Zenz nur noch Gesamtdritter, der Köbi strahlender Sieger, der Schulleiter zuckt nur mit den Schultern und grinst, als wäre er verlegen. Zenz hat seine Wettkampfzeiten und Leistungswerte nochmals belegt, hat sich an die Lehrer gewandt, schliesslich sogar an einen Mann aus der Schulkommission. Nur süffisantes Lächeln, überall: He, bleib locker, ist doch keine bierernste Sache, welcher Lehrer macht schon keine Fehler beim Aufschreiben der Resultate, es geht doch ums Mitmachen, nicht ums Gewinnen. Zenz begreift, es geht ums Mundhalten, nur nicht stören, nur nicht Spielverderber sein.