Elena ist gut organisiert, sie verliert keine Minute. Die Kirchenglocken sind soeben verstummt, als letzte ist sie in den Betonbau reingeschlüpft und wird in den hinteren Sitzreihen noch Platz finden. Ihre Verwandtschaft sitzt schon aufgereiht da, eine der vielen Familien von den jungen Menschen, die der Pfarrer heute konfirmiert. Auf einem Stuhl liegt ein Zettel mit der Aufschrift «Elena». Sie muss noch an Josh vorbeisteigen und seinem Vehikel, das neben ihm am Rande der Sitzreihe steht. Flüchtig küsst sie ihn auf die Wange, er strahlt sie an, greift ihre Arme und will sie nicht aus seinen Händen lassen. Elena gleitet erleichtert auf den Stuhl neben ihm und stösst die Luft aus sich raus: «Hu, das war knapp, aber da bin ich!» «Habe nicht gezweifelt, dass du kommst.» Josh strahlt weiter. Elena hört, wie die Orgel den Raum erfüllt. Die Musik hat Schmiss, kommt poppig daher, ganz ungewöhnlich für den kirchlichen Rahmen. Der Organist muss um jede Pfeife wissen, er lässt sie alle erklingen, volles Rohr. Vielleicht weiss er in geheimnisvoller Weise auch um Elena und würdigt an den Tasten ihren schwungvollen Sprung in den gefüllten Kirchensaal.
Gegen zwanzig Familien füllen die Reihen bis zum letzten Platz, alle haben sie eine Konfirmandin oder einen Konfirmanden zuvorderst sitzen. Ihre Zöglinge sind es, die erwachsen werden und denen der Pfarrer das coming of age jetzt auch noch attestieren will. Aus Ungarn kommt dieser und alle müssen sich an sein Deutsch gewöhnen, er macht keinen Unterschied zwischen den Vokalen «a» und «o», er wünscht oallen einen goanz wunderboaren Toag und spitzt die Vokale eigenartig zu. Die Brille jongliert er zuvorderst auf der gestreckten Nase, sein Zehntagebart grenzt sich scharf von den glattrasierten Stellen ab, kein Haar ist unter, kein Haar über zehn Tage lang.
Die Verwandtschaft begrüsst Elena im Flüsterton, über die Stuhllehnen, einzelne berühren kurz ihre Schultern. Sie hört, wie Josh das inzwischen verklungene Orgelspiel kommentiert, einen Zacken zu laut, sodass man es im halben Saal vernimmt: «Ist immer so schön, die Orgel in der Kirche». Hinter Elena geht Getuschel los, auch zu laut. «Schon ein Armer» oder «Er hat doch diese Krankheit, wie heisst sie nur schon» und «Viel zu jung für sowas».
Heute sind sie hier ein Paar, Josh und sie. Sie sind der Götti und die Gotte vom Göttibub, der auch in der ersten Reihe sitzt und nicht so recht weiss, was er vom grossen Tag halten soll. Cool schon irgendwie und ein besonderes Ereignis, die ganze Familie ist da, wirklich alle. Er ist der letzte unter den Geschwistern, unter den Cousinen und Cousins, der vom Pfarrer gleich den Lebenssegen erhält.
Bereits singt der Saal das erste Lied aus dem Kirchengesangbuch, das übliche Lob auf den grossen Gott. Elena bleibt sitzen, obwohl sich alle hätten erheben sollen. Sie kommt sich komisch vor, denn Josh ist nicht in der Lage hinzustehen, er zieht mit den Händen gerade an seinen Beinen, die ihm einen sicheren Stand versagen, er rückt sie näher an sich, zumindest will er so aufrecht sitzen wie nur möglich, wenn er dem lieben Gott den Respekt schon nicht stehend zollen kann. Auch Elenas Beine sind plötzlich wie gelähmt, sie denkt verzweifelt, was muss er von mir halten, er fragt sich bestimmt, warum steht sie nicht auf, sie muss doch wegen mir nicht sitzen bleiben, sie kann doch auf die Beine kommen, wie alle anderen.
Ein Konfirmand liest aus dem alten Testament, es geht um die Freiheit. Der Pfarrer blendet eine Folie ein, drei Meter gross leuchtet sie von der Betonwand über ihm: «Wähle die Freiheit, du hast eine Wahl». Die Leute sitzen wieder, sie müssen jetzt auch eine Wahl treffen, eine ganz konkrete. Die Konfirmanden haben sich unlängst in ihrem Lager in den Bergen vor Augen geführt, wie schwierig es ist, die Wahl zu haben, schlimmer noch, eine Entscheidung treffen zu müssen. Sie projizieren ein paar Fotos mit Alltagsszenen an die Wand, die sie nachgestellt haben und die unterschiedlich ausgehen können, je nachdem, wie man in der Situation handeln wollte. Die Anwesenden sollen Stellung nehmen. Erstes Beispiel: ein Mann liebt das schnelle Motorradfahren und wird erstmals Vater. Was soll er tun? Die Hände im Kirchensaal gehen hoch, die einen würden dem gefährlichen Hobby weiter unverändert frönen, die anderen würden es sein lassen und die Mehrheit wäre einfach vernünftiger und würde nur vorsichtiger fahren. Dann gehts ums vegane Essen und ob man sich damit outet oder andere auch dazu anhält oder eben nicht und schliesslich um das Strassenqueren als Fussgänger trotz Rotlicht, vor den Augen eines fremden Kleinkindes und seiner Eltern: darf man sowas? Soll man sein eigenes Ding durchziehen oder sich zurückhalten und lieber nicht auffallen oder am Ende gar Rücksicht nehmen auf die anderen?
Dann spricht wieder der Pfarrer, alle verstehen ihn jetzt, er hat nämlich erklärt, aus welchem Land er kommt und wie gut er im Internat abgeschnitten hat und allen ist jetzt klar, warum er redet, wie er redet. Er holt in der Predigt weit aus, so weit, dass ihn vielleicht doch nicht alle verstehen, er wird philosophisch und begründet, warum die wahre Freiheit eine Verantwortung mit sich bringt und warum die Freiheit verloren geht, wenn man die Verantwortung nicht wahrnimmt. «Wählt das Leben», sagt er, und «wählt die Freiheit», aber er lässt offen, was er damit meint, denn er muss noch anfügen, um den Christus und sein Kreuzesleiden komme man nie ganz herum.
Im zweiten Kirchenlied – Elena hat wieder Beingefühl und erhebt sich jetzt doch zum Singen – macht eine Frau hinten im Saal von der Freiheit Gebrauch und singt eine zweite Stimme. Sie tut das als einzige, keiner sonst weicht von der Leitmelodie ab. Die Frau trifft jeden ihrer Begleittöne und auch die Harmonie, aber ihre Stimme ist alt, sie bricht schon in bescheidenen Höhen, sie scheppert. Man weiss nicht, ob man ihr zuhören mag.
Der Pfarrer holt die Konfirmanden einzeln aufs Podest der Betonkirche, achtzehn lange Male. Sie marschieren einen Umweg, hinter dem Altar durch, dann stehen sie in einem blumenumkränzten Tor, als fehlte noch die Braut, und wissen nicht, wie sie in die Welt blicken sollen: zum Pfarrer oder doch zu den Augen im Saal und zu jenen auf Instagram, wenn die Bilder gleich ins Internet gehen.
«Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit», sagt der Pfarrer zum Göttibub und schiebt noch einen Segen hinterher. Dann ist schon der nächste dran. Zum Schluss singt der Göttibub auf dem Podest, mit der Kirchen-Band, er schmeisst den englischen Song, dessen Worte keiner verstehen muss, geradezu ins Publikum, ohne Nervosität, er kriegt grossen Applaus, er kalkuliert, besser ein Post im Internet von ihm locker am Mikrofon als blumenumkränzt mit dem Spruch vom Pfarrer in der Hand.
Das Vaterunser noch, dann das Amen. Ein allerletztes Wort hat ein alter Mann in freudlosen Kleidern und mit aschfahlen Haaren, er grüsst die Anwesenden von Seiten Kirchgemeinderat, dem er angehört, er zeigt eine Powerpoint-Folie mit einem Bahnübergang und Andreaskreuz und meint, so nah sei uns Christus im Alltag, dann hat auch er seine Pflicht getan.
Elena schüttelt jetzt auf alle Seiten die Hände, man hat sich lange schon nicht mehr gesehen, hey, gut siehst du aus, schön dich zu sehen. Alle scharen sich ums Vehikel. Der Vater vom Göttibub demonstriert, wie Josh damit selbständig herumfahren kann, obwohl ihn die Beine nicht mehr tragen. Wie ein Kinderdreirad sieht es aus, nur grösser und aus Metall, nicht Plastik, und es fährt mit Akku, eine Ladung für ganze vierzig Kilometer.
Josh stemmt sich langsam und unsicher, aber doch zielstrebig vom Stuhl und hinüber auf den Sitz seines Scooters, so müsse man sein Gefährt nennen, erklärt er selbstbewusst und bedeutungsvoll. Man versteht, es macht ihn aus, dieses bewegliche Ding. Alle begreifen, dass Josh ohne fremde Hilfe, also schlicht mit eigener Kraft vom Fleck kommen will und lassen ihn nun allein gewähren, auch wenn ein Gefühl partout nicht weichen will, dass sie schon irgendwie etwas beitragen sollten. Über ihnen schwebt die nicht zu beantwortende Frage, wie lange das noch geht, dass Josh überhaupt noch fortkommen kann, von A nach B. Es steht doch immer schlimmer um ihn. Es wird doch ein böses Ende nehmen.
Der Tross folgt Josh, der zur Kirche hinaustuckert, durch die staunende Menge. Kaum ist er vorbeigefahren, weicht die Betretenheit dem Geschwätz. «MS, gell?», «Er hat doch Familie, Kinder, oder?», «Ich glaube, er lebt jetzt für sich allein, er will seine Ruhe haben, ist sicher nicht einfach für die Söhne und die Frau. Ich meine besonders für die Frau!», «Ja, froh kann man sein, einfach froh, manchmal vergisst man, wie gut man es hat.» Elena mag nicht gross erklären, sie kennt Josh gar nicht so gut, wie alle meinen, auch wenn sie einen gemeinsamen Göttibub haben. Josh zeigt sich nur selten, er hat sich zurückgezogen, seit man vor zehn Jahren bei ihm die Multiple Sklerose diagnostiziert hat, nur heute an der Konfirmation will er bestimmt nicht fehlen, seinem Göttibub zuliebe, dem er leider viel zu wenig bieten konnte. Er hat sich den Ruck gegeben und ist gekommen, sein Anzug sitzt perfekt, der Coiffeur hat untadelige Arbeit geleistet. Josh strahlt aus einem sonnengebräunten Gesicht und er widmet sich jedem, der mit ihm spricht, mit grossen Augen und offenem Ohr. Er fragt, wie ein Kind, er sucht in seinem Gedächtnis nach all den Namen, die er lange nicht mehr gebraucht hat und ist voller Stolz, dass er sie findet, fast alle. Die Leute staunen, wie direkt Josh an sie herantritt, wie viel er wissen will aus ihrem jüngsten Leben, Alltägliches, Banales und zwischendurch auch mehr. Sie geben Antwort, irritiert und doch bereitwillig. Man will sich der Neugier eines leidgeplagten Mannes nicht verweigern, der ankämpft, gegen das Vergessen und den schleichenden Tod.
Auf dem Bauernhof gibts ein Festessen. Die Gesellschaft sitzt im Hof, schönstes Maiwetter, ein Buffet folgt dem anderen. Apéro, Hauptgang, Dessert. Der Konfirmand nimmt die Geschenke entgegen, Einladungen zu Reisen und zu Konzerten. Der reiche, kinderlose Grossonkel aus Lausanne wartet mit Schmuck auf, ein Christuskreuz an schwerer Kette, weiss glitzert das Gold. Sein Geschenk begleitet er mit viel Geschwätz, es will nicht enden.
Vor dem Dessert lädt Elena zum Spiel, sie hat sich einen kleinen Wettbewerb ausgedacht und lässt drei Gruppen bilden, die verschiedene Aufgaben zu lösen haben. Neben einem Quiz und einem Puzzle steht Zeichnen an, und auch noch Federball. So plätschert der Nachmittag vor sich hin, viel Zeit geht fürs Fotografieren drauf, jeder will seine eigenen Bilder. Zwei reden vom Tandem-Gleitschirmflug, den sie am nächsten Tag im Berner Oberland machen wollen, andere vom nächsten Besuch unter Verwandten und wie er zu planen sei und die Grossmutter hat ein paar Geschichten auf Lager, vom kleinen und dann grösser werdenden Göttibub, die sich in ihr Gedächtnis eingegraben haben, sie gibt sie zum Besten, nur die glücklichen natürlich.
Josh ist noch da und dort Gesprächsstoff. «Schon verrückt, wenn man denkt», «Er war mal Oberarzt in der Chirurgie, dann haben die Hände versagt, zu zittrig, schon tragisch» und «Er hat alles versucht, er hat sich im Ausland behandeln lassen, frische Zellen aus dem eigenen Rückenmark, hat nichts genützt». Dann und wann steht die eine oder der andere auf und fragt Josh, ob er etwas will, noch ein Glas Wasser zum Beispiel, oder hilft ihm auf dem Weg zur Toilette. Wenn man ihn stützt, geht es auch ohne Scooter. Josh nutzt die Gelegenheit, um weiter zu fragen. «Du hast jetzt dein eigenes Geschäft, ich glaube, du bist zufrieden, wie es läuft?» Einen Cousin vom Göttibub fragt er: «Du bist im Nachwuchskader im Tennis, stimmt das?» Oder den älteren Bruder von der Gotte: «Du steigst jetzt richtig in den Rebbau ein, nach deiner Pensionierung?»
Dann bricht Josh unvermittelt auf, er fährt nach Basel, mit dem Postauto und dem Zug. Die Leute rätseln, wie das überhaupt gehen soll, dann umringen sie ihn, drücken ihn innig an ihre Brust, als wären sie engste Freunde. Sie wünschen Josh alles Gute, manch einer hat Tränen in den Augen.
Während der Scooter Josh davonträgt, drängt es die Gedanken der Zurückgeblienenen da und dort noch ins gesprochene Wort.
«Schon eindrücklich, wie er das schafft, mit diesem umständlichen Gerät im ÖV. Bis nach Basel will er kommen, so weit ist sein Zuhause weg.»
«Das hat er sich wohl auch anders vorgestellt, so ein Leben.»
«Sowas sucht man sich nicht aus, Gott bewahre.»
«Aber sag mal, hätt mich jetzt schon interessiert, warum heisst er eigentlich Josh?» «Weiss ich nicht, er gehört ja nicht direkt zur Familie, auf jeden Fall ist er Schweizer, einer wie du und ich, aber man hat mir mal gesagt, das sei der gleiche Name wie Jesus.» «Was? Josh ist Jesus? Nicht jetzt? Wirklich?»