Die Hinterlassenschaft

Auszug aus «Sieben-einhalb Verzählungen», Nr. Vier

Sie steigen weiter hoch, das enge Tal öffnet sich, gibt eine Hochebene frei, karg und doch in einem sanften, hellen Grün. So frisch dieses Grün, man kann es einatmen, es befreit die Nasen. In der Ferne eine Gruppe kleiner Gebäude, zu ihrer Seite am hohen Felsen ein blendend weisses, senkrechtes Band, ein zartes Rauschen verrät das Schäumen von Gletscherwasser. Von den Bergspitzen fällt eine Brise, aber sie vermag den Köpfen in der Wandergruppe keine neuen Gedanken zuzutragen. Alle drei sind gefangen in sich, sie zweifeln nicht, dass sich ihre Erwartungen erfüllen werden. Endlich werden andere Zeiten anbrechen, die das Alte hinter sich lassen, Zeiten ohne die Kiesel der Trübsal in ihren Getrieben. Mit so viel Geld lässt sich doch vieles anstellen – was denn vieles? Alles!

Maxima denkt an ein Leben ohne jegliche Sorgen, an den Schnitt, den Cut, wie sie sagen würde. Der Sonne und den Hotspots nachreisen, kaufen, was einem schmeichelt und ins Auge sticht – Apartments, Schmuck, Klamotten – und ausgehen, oder besser noch in Erscheinung treten, wo man will. Kurz, das Leben nur von der edlen Seite nehmen. Sie hat es verdient, denkt Maxima, nach einem Leben mit einem fernen Vater und einer Mutter, die viel zu früh starb. Die Brise vom Berg ist die Brise am azurblauen Meer, dort, wo der Jetset sich trifft. Sie wird sich kein Gewissen machen, sie wird sich gar keines mehr leisten, sie wird unbekümmert durchs Leben schweben, bye-bye Vergangenheit. So glaubt Maxima, wird es zu ertragen sein, so wird sie sich mit der Dumpfheit des Lebens arrangieren können.

Alfons ist da nüchterner, er mag sein Bankerleben. Hingegen, aus dem Zustand des Juniors finden, es wär höchste Zeit. Wozu hat er sich abgerackert, all die langen Jahre, ohne Freizeit, ohne Leben neben der Firma? Zeit also für das stattliche Haus und Bedienstete, welche Frau und Kindern das Lästige abnehmen. Statusgerecht endlich auch das Auto, in der Klasse der Limousinen. Der Rest ergäbe sich. Die Chefs – einmal in seiner Villa am Tisch – würden ihn in ihren Kreis aufnehmen, er gehörte dazu, es zöge ihn wie von selbst an die Spitze, als beförderte ihn eine Rolltreppe nach ganz oben in die Höhenluft des Konzerns. Er spürt es in den sportlichen Wanderwaden, er ist gemacht fürs Hochklettern, er atmet die Brise ein, sie passt ihm sehr die Höhenluft.

Nur der Konstantim ist andersherum gewickelt, er schleppt schwer, sein Gang ist mühseliger geworden. Die Siegel der Vergangenheit, der Klosterzeit und der Jugend, ältere gar sind wieder da, wie Gesteinsbrocken haben sie in seinen Rucksack gefunden und ziehen unerbittlich nach unten. Er weiss nicht, ob es klug ist, der Häusergruppe zuzustreben, er weiss nicht, ob die Brocken noch schwerer wiegen, wenn er ins Tal zurückkehren wird. Aufgebrochene Siegel schweisst man nicht wieder zu. Umkehren aber kann er nicht, will er nicht. Er kennt Maxima und Alfons nicht gut, auch sich selbst nicht sonderlich, aber er steckt in einer Geschichte mit seinen Halbgeschwistern, die er nicht verlassen kann. Dieser Siegel wegen. Er spürt die Höhenluft, aber er merkt, sie trägt ihm den Schweiss nicht weg, sie vermag ihn nicht zu kühlen.

Im Berghotel ist alles überraschend angenehm, Maxima fällt ins Schweigen. Gemütliche Zimmer, das Holz duftet nach Heu, Lebkuchengewürzen und getrockneten Zitronen. Nur unweit von den Gebäuden der Wasserfall, ein Hypnotiseur, er berauscht, selbst wenn sich das Auge abwendet, er strotzt aus dem Berg hervor, als erfände er das Wasser und stiesse es theatralisch in seine fliessende Form. Am Abend bereitet das Berghotel den Gästen eine Kräutersuppe, Distelöl und getrocknete Pilze aus dem Tal haben sie angereichert. Dann gibt es Eintopf mit Linsen, Wurzelgemüsen und Würfelchen aus hartem, mehrjährigem Bergkäse. Und zum Erstaunen der Einkehrer einen Nachtisch: Beerenbrot und Splitter schwarzer Schokolade. Wer will, tränkt die Brotstücke in den Schnaps der Kräuter aus der Hochebene.

Der Notar hat mitgegessen, er hat sich mit Vornamen vorgestellt, er sei der Ernst, man solle ihn so nennen.

 

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