Ich erzähle nicht viel, eigentlich erzähle ich nie etwas. Die Dinge bleiben bei mir. Was bringt es schon? Palavern sollen die anderen. Aber wenn wir schon hier an unseren Gläsern nippen und etwas Aussergewöhnliches erleben wollen, dann will ich nicht schweigen, dann lasst mich diese eine Geschichte hervorholen. Es hat sie noch keiner gehört, sie ist zu bizarr. Und zu wahr, als dass man solchen Dingen Glauben schenkte. Aber sie belastet mich und einmal muss sie auf den Tisch, sonst bringt sie mich um die Seelenruhe, einmal muss ich mein Geheimnis loswerden. Und es passt, Verbrechen und Wein haben nämlich ihre Gemeinsamkeiten, beide haben ihre Geheimnisse und mit Geheimnissen ist es so eine Sache.
Dieser berühmte und abgedrehte Maler, bei dem in den Bildern die Taschenuhren wie klebriger Teig über Felskanten herunterfliessen, dieser Salvador Dalí hat einmal über den Wein gesagt: Wer geniessen kann, der verkostet immer ein Geheimnis. Wer sich einen guten Wein so richtig schmecken lässt, der muss eben sein Geheimnis respektieren, also das vom Wein, nicht das vom Dalí, denn der war ebenfalls voller Fragezeichen. Und so hat auch, was ich erzähle, sein Mysterium, das Unfassbare bleibt unfassbar: ein guter Wein ist ein guter Wein, eine gute Geschichte eine gute Geschichte und warum die Menschen tun, was sie tun, bleibt nicht selten ein Rätsel.
Es hatte in der Vinothek angefangen, so wie alles im Dorf in der Vinothek anfängt. Die Leute gönnen sich nach dem langen Tag in den Reben und Kellern einen Pinot gris, einen Sauvignon blanc oder natürlich den Chasselas und dann gibt jeder seine Geschichte zum Besten, die Nähkästchen gehen auf, mit jedem Gläschen ein bisschen weiter, und alle plaudern wacker drauflos. Selbstverständlich redet man nicht über die Weine, die man in der Vinothek trinkt. Man denkt sich sein Ding, man inspiziert, was die Kumpels produzieren, aber man verliert kein Wort zu ihren Weinen, man riskiert nicht, ihnen auf die Füsse zu treten. Auch ich setze mich in die Vinothek, immer wieder und höre zu. Denn ich bin nur der Karl, ich flicke den Winzern die Werkzeuge und Maschinen und frage nur, wenn es wirklich nötig ist.
Also, es war im Herbst, die Ernte vorbei und die Trauben in den Kellern an der Maische, alles am Gären, da ging es los mit dem Gezeter in der Vinothek. Der Abend wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, wenn sich nicht ein paar Tage danach etwas Schlimmeres ereignet hätte. Kommt dazu: Jeder hatte das komische Gefühl, dass beides zusammenhängt, das Gejammer in der Vinothek und das schlimme Ereignis, als wäre das eine die Folge des anderen. Aber jetzt mal eins nach dem anderen: schön der Reihe nach.
Zuerst hat der Rolf ausgerufen. Der hält sich für den Lokalmatador, aber lokal ist nur, dass er seine Reben hier hat, den Matador bezieht er aufs Universum, seine Weine würden alles dominieren, lässt er jeden verstehen. «Seit Jahren lade ich dieses Pack auf meine Domaine, tue alles für sie, stürze mich in Unkosten und verköstige sie, zeige ihnen, wie hoch dekoriert meine Weine sind, und was machen sie, diese Idioten? Sie schreiben nur lausig über mich, ohne Bilder, mit Kurztexten auf den hintersten Seiten. Kein anständiges Porträt, kein Fernsehbeitrag, einfach nichts in diesen verdammten Wein-Postillen über meine exzellenten Weine. Wenn das nächste Mal so ein Wein-Journalist und Wichtigtuer den Kopf bei mir reinsteckt, geht er ohne diesen weg!» Jetzt meldet Silvie sich, hochangesehene Biodynamikerin und Rebenzüchterin, ihre Naturweine zuvorderst auf jedem Weinmagazin. Rolf geht ihr zu weit, gleich bricht sie das Tabu, sie schlägt die flache Hand auf die Bar, dass die Gläser klirren und grunzt, weil sie sich just an einem Wein vom Rolf verschluckt: «Chrr…, uurgch, Rolf», sie hustet in ihr Halstuch, das sie immer trägt, «mein lieber Rolf, ich wüsst jetzt auch nicht, was schreiben über deine Assemblage, mit Verlaub, nichts Überraschendes! Du ersäufst die Diolinoir im Pinot oder umgekehrt, ich spüre die zwei Früchte nicht mehr heraus, obwohl die Sorten auf der Flasche stehen. Die Kritiker würden schon über deine Weine schreiben, wenns was zu schreiben gäbe!» Silvie grinst in die Runde, dann fällt ihr Lachen in sich zusammen: «Wenn uns jemand umbringt, dann sinds nicht die Schreiberlinge. Hingegen macht uns der Amtsschimmel das Leben schwer, diese stumpfsinnigen Kellerkontrollen, immer zur Unzeit, als wären wir Pfuscher, und vor allem die AOC-Kommission, die pennt und nicht vorwärts macht. Ich warte schon lange, dass ich die offizielle Anerkennung erhalte für meine neuen, super-resistenten Rebsorten. Also, wenn wir einen umlegen, dann einen Behörden-Fuzzi, von mir aus gleich alle, Inspektoren, Rebkommissär, Alkoholverwalter und die übrigen Funktionäre. Jetzt kann Ruth, die Sekretärin der Winzergesellschaft, nicht mehr auf den Mund hocken: «Du weisst schon, Silvie, dass unser Präsident auch der AOC-Kommission vorsteht? Hast du was gegen ihn? Es tönt fast so!» Rolf lässt Silvie gar nicht zu Wort kommen: «Musst du den Heinz verteidigen, Ruth, nur weil er dein Chef ist? Ich sags ungern, aber hier trifft Silvie ins Schwarze: Jeden hohen Posten hat er ergattert, er ist Präsident der Winzergesellschaft und die AOC-Kommission vom Kanton – genau! –, die präsidiert er auch. Sogar bei den Weinbündlern ist er am Ruder. Wie ist das möglich? So viel Macht ist mafiös. Und warum tut er das? Liegt doch auf der Hand! Nur sein Weingut hat er im Auge, keiner soll ihm in die Quere kommen. Er ist schuld, dass wir keine guten Beziehungen zur Presse haben, er will doch ganz bewusst kein Marketing: Man könnte merken, dass es noch andere schöne Weine von hier gibt, viel bessere als seine.»
So ging das weiter an diesem Abend in der Vinothek. Jeder hat ein Rohr voll rausgelassen. Vorher hatten sie ihre Röhren auch tüchtig gefüllt, natürlich mit den Weinen der halben Vinothek. Sie waren sich hochprozentig einig, ihre Weinregion ist voller Tatendrang: exklusive Rebsorten, revolutionäre Rebpflege und raffinierte Weinbereitung. Hier ein würziger Orange Wine, dort ein frecher Pét-Nat und da ein süffiger Likörwein: «Wir sind nicht zu bremsen!» Und Visionen gäbe es noch viele, wenn die Weinwelt nicht mit Hindernissen verstellt wäre: Diese Journalisten, die sich von den grossen Produzenten kaufen lassen, die Politik, die mit all den Verboten den Leuten den Weinkonsum vergällt und dann noch dieser AOC-Präsident, der mit der Politik unter einer Decke steckt und nicht ans Gemeinwohl denkt. AOC heisst alle Weine schützen, nicht nur die eignen!
Der Abend in der Vinothek hat die erhitzten Gemüter beruhigt, hat allen gutgetan… oder muss ich besser sagen, hätte guttun können? Da wäre eigentlich der Frust wieder abgeladen, da hätte man die Sündenböcke einmal mehr gefunden, hätte die Dämonen in der Luft zerfetzt und ihnen den Garaus gemacht. Tags drauf wäre alles halb so schlimm, man könnte sich wieder voller Optimismus den Problemchen des Alltags widmen. Wäre, hätte, … zu schön wärs gewesen, denn dann geschah das wirklich Schlimme, alles war anders.
Er verschwand tatsächlich. Der X-fach-Präsident. Keine Spur mehr von Heinz. Keiner wollte einen Anhaltspunkt haben. «Ach, der hat sich früher auch schon verzogen, nicht die erste Flucht, die er ergreift, ohne was zu sagen. So viele Ämter, das hängt jedem zum Hals heraus mit der Zeit!»
Die Dorfwelt stand Kopf. Der Stamm in der Vinothek fand wochenlang nicht statt, kaum einer zeigte sich. Und dann fiel erneut etwas Eigenartiges vor.
Das Rebenblatt erschien. Das ist die Zeitung der Winzergesellschaft und wenn sie etwas schreibt, ist das keine Sensation. Aber auf Seite 3, halbseitig gross, war eine Anzeige drin, die keiner verstand. Oder vielleicht doch? Es stand da das Folgende:
Für Heinz, unseren Präsidenten
Schade, bist Du nicht mehr hier. Anderswo ist auch gut. Alles wandelt sich, wir sind wie die Trauben, sie schiessen zur Sonne hoch, werden süsssauer und vergären zu Geist. Und was nicht Geist wird, fällt in den Grund zurück. Alles, was bleibt, ist Deine Spur, sie ist flüchtig, aber wir verlieren sie nicht. Deine Kolleginnen und Kollegen von der Vinothek.
Siehe da, schon füllte sich die Vinothek wieder. Alle kamen, auch die selten Gesehenen. Denn wer konnte sich schon einen Reim machen? Zuerst verschluckt der Erdboden den Winzergesellschafts-AOC-Super-Präsidenten und als nächstes macht das Rebenblatt den Abgesang auf ihn. Wie merkwürdig! Mal sehen, wer redet und wer schweigt. Die Vinothek hat immer eine Antwort.
Am meisten fiel Ruth auf, wie sie andauernd schluchzte: «Ihr habt ihn doch alle gehasst, schämt Ihr euch nicht? Er hat geschuftet wie blöd, ihr habts nicht gemerkt! Die Güterzusammenlegung in unseren Rebbergen, das jährliche Weinfest und die Treberwurst-Saison, ein gigantischer Einsatz, das gäbe es alles nicht ohne unseren Präsidenten, er hat die Traditionen wieder bekannt gemacht. Jetzt hat ein Feigling seinem Werk ein jähes Ende gesetzt. Heinz lebt nicht mehr, sagt mir mein Bauch. Am Ende sind wir alle schuld, wir hätten ihm seine Taten viel früher zugutehalten müssen». Silvie wird es erneut zu bunt, müssen denn alle gleich den Teufel an die Wand malen? «Jetzt stell dich nicht so an, Ruth, deine Loyalität in Ehren, wir wissen noch gar nicht, was passiert ist, es ist zu früh zum Plärren. Bald klärt sich alles auf, sicher zum Guten.» «Und was ist mit der Anzeige im Rebenblatt?», murrt Ruth auf, «todernst ist sie gemeint, da tut einer so, als ob er uns zum Narren hält, ein Mordsbekenntnis ist das, ich spürs. Heinz ist tot.» «Tot für uns, aber quietschlebendig in der Südsee oder irgendwo», Silvie lässt nicht locker, «er hat sich aus dem Staub gemacht, lies doch da: Anderswo ist auch gut. Die blöde Anzeige ist seine Art, sich zu verabschieden, etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Was solls?» «Mir ist das alles völlig Wurscht», fügt Rolf noch an, «Hauptsache, er bleibt, wo er ist, und zwar für immer. Es geht auch ohne ihn!»
Zum Schluss in der Vinothek das grosse Durcheinander. Tausend Fragen. Ist das jetzt ein Nachruf? Wer würde sowas schreiben? Wozu? Und wenns kein Nachruf ist, was ist es dann? Will uns der Heinz zum Nachdenken bringen? Uns sagen, dass wir die Dinge nicht so ernst nehmen sollen, weil alles flüchtig ist? Sollen wir uns alle einfach gut vertragen?
Nichts dergleichen, es geschah wieder etwas. Saukomische Fortsetzung. Schwierig zu deuten, aber mir hats plötzlich Klick gemacht, mir, dem schweigsamen Karl. Weil ich habe die Anzeige im Rebenblatt genau gelesen. Ein paar Mal. Darum fiel es mir auch auf.
Es war jetzt Winter und es gab Treberwurst, in allen Beizen und Kellern der Dörfer am Bielersee. Eine Tradition von Heinz, seine präsidiale Idee! Nein, nicht die Wurst an und für sich, die existiert schon lange, aber Heinz hat dafür gesorgt, dass sie gross herauskam und alle weitherum anlockt.
In diesem Jahr aber schmeckte die Wurst anders. Die Gourmets habens sofort gemerkt, irgendwie geheimnisvoll, Dalí lässt grüssen. Süsslicher, würziger. An den Tischen hörte man, das Fleisch sei zartbitter im Mund, so speziell wie noch nie. Die einen hats begeistert, in höchsten Tönen rühmten sie: «Diese Intensität!» Und die anderen rümpften gehörig die Nase.
Nur woher rührte dieser Geschmack? Detektivische Arbeit: Kombinieren muss man können! Da hat ein lästiger Kerl verschwinden müssen, ratzfatz und spurlos. Was tun mit seinen Überresten? Vielleicht zerlegen und zerstückeln? Eine Gelegenheit bietet sich, plötzlich geht es schnell. Sakrament! Und dann schmeckt die Treberwurst nicht mehr gleich, am Ende ist eine neue Zutat drin: Heinz in aller Munde – der Präsident den Leuten zum Frass vorgeworfen!
Hat mir zuerst auch irgendwie eingeleuchtet, aber es war die falsche Spur, schlau und schnell führt nicht immer ans Ziel, so ein Geheimnis hat seine Verwinkelungen. Ein paar noch nicht gegarte Wurstproben habe ich mir organisiert, ohne Trester gebraten und siehe da, die schmeckten wie jedes Jahr.
Doch wenn Heinz selbst nicht im Fleisch steckte, was dann? Bleibt nur noch eines – exakt: der Geruch der Wurst! Und natürlich der Nachruf, klipp und klar stand da, total augenfällig: Deine Spur, sie ist flüchtig. Endlich richtig Klick beim Karl! Ab jetzt eine simple Sache, wie ein Domino: Was ist flüchtig, wenn nicht der Duft? Und wo entsteht der Duft der Wurstspezialität? Im Tresterdampf natürlich. Und woher kommt der Dampf, der die Wurst gart? Aus dem Brennkessel. Und was steckt im Brennkessel? Der Trester, also die ausgepressten Häute der Traubenbeeren und die Stiele. Und woher stammt der Trester? Aus der Grube vom Brennmeister im Dorf, unter der Brennerei. Das sind verdammt grosse Kavernen im uralten Untergrund, da bringt jeder vom Dorf seinen Trester hin, ins grosse Loch, zur Lagerung. Und was hat es da unten im Loch sonst noch gehabt, unter dem bisschen Trester, der übrigblieb? Was hat den Trester so speziell aromatisiert, bevor er unter die Wurst im Kessel kam?
Volltreffer!
Hat mich etwas Zeit gekostet, bis ich allein war in der Brennerei, in den Tagen nach der Treberwurst-Saison. Hab vorgetäuscht, ich wär schon gegangen, dann ist der Brennmeister in den Mittag verschwunden. Grubendeckel zur Seite geschoben, ging gut, nur ein Holzbrett – stechender Schnapsgeruch! – und vor meinen Augen im Schein meiner Taschenlampe lagen auf dem Kavernengrund die Reste vom …, aber das Unappetitliche erspare ich uns. Man muss sich die Sache nur etwas klumpig vorstellen, matschig: Ein elendes Häuflein von Heinz! Ich mein, wer sonst hätte da gelegen? Ein Trester, der in der Grube weitergärt und ein Heinz, der sich kompostiert, wenn das keine Würze in die Wurst gibt! Echte regionale Spezialität!
Die Zeit ist um, jetzt dalli, dalli zum Schluss. Gutes Stichwort: nicht dalli, aber Dalí. Was hat der grosse Maler über das Geniessen gesagt? Stimmt! Wer richtig geniesst, der verkostet immer ein Geheimnis. Man könnte auch sagen, was kein Geheimnis mehr hat, verliert seinen Reiz, man kann es nicht mehr geniessen.
Warum also herausfinden, wer den Heinz versenkt hat, da in den Schlund der Brennerei? Warum das Geheimnis der Winzer knacken? Es ist doch wie mit dem Wein: Wenn man nicht mehr rätseln kann, was in ihm steckt, dann ist alles futsch und der Zauber weg!
Darum soll man ihn bestaunen, den Zauber! Man kann auf der Fährte bleiben, hingehen in die Vinothek, es gibt sie wirklich, sie ist unglaublich. Und hinabsteigen in die Keller, in die Höhlen des Jurakalks, wo der Rebengeist die Säfte reifen lässt. Den Winzerinnen und Winzern das Ohr und den Gaumen leihen, bis man ihren Kniffen auf die Schliche kommt. Bei einem Gläschen Wein werden sie bestimmt ins Plaudern kommen und viel verraten. Natürlich, die wahren Geheimnisse bleiben verborgen.
Zumindest beim Wein!
Denn Achtung, jetzt die letzte Überraschung! Ich wäre nicht der Karl, hätte nicht auch ich aus Neugier und Not die Fährte wieder aufgenommen, es gab nämlich eine. Ich wollte in der Brennerei schon wieder den Deckel über die Grube schieben, da stach mir in der Hand von Heinz ein eigenartiger Gegenstand ins Auge. Mit einem langen Rührholz gelang es mir, das Corpus Delicti hochzuziehen: Ein triefender, stinkender Schal. Nochmals Volltreffer! Nur eine im Dorf trägt solche Schals, es ging nicht lang und ich stand bei ihr in der Stube.
«Jetzt sag mal, Silvie, wie kommt der Heinz an deinen Schal? Du wirst wohl nicht in die Grube gestiegen sein, um ihm diesen in die Hand zu drücken.» – «Der Schal! Ich fasse es nicht. Rolf und ich wollten ihn schon mehrfach zurückholen, es ist uns nicht geglückt. Die Brennerei war nie menschenleer. Aber wie kommst du zum Schal?» – «Du zuerst! Was hast du mit dem Tod von Heinz zu tun?» – «Ich bin ihm eines Tages in die Brennerei gefolgt, er hat da auf den Brenner gewartet. Ich habe ihn gestellt, weil seine hochnäsige AOC-Kommission meine neuen Weine ablehnt. Wir sind uns in die Haare geraten, vor der offenen Trestergrube. Da ist er nach hinten gestürzt. Es war ein Unfall!» – «Ein Unfall? Und der Schal?» – «Hat er mir vom Hals gezogen, als er hinunterfiel. Ich fiel fast mit. Dieser doofe Schal, wäre nur dieser Schal nicht gewesen! Jetzt hats doch einer mitgekriegt, verdammt, Karl, du kriegst immer alles mit. Sag jetzt, wie kommst du an den Schal?» – «Du hast keinen alarmiert? Du hast Heinz im Loch liegen lassen, einfach so?»
Silvie hat mir alles erzählen müssen, ich bestand darauf. Wie Heinz reglos in der Grube gelegen habe, wie sie noch zu ihm habe herabsteigen wollen, aber da habe sie gehört, wie der Brenner «Bin gleich bei dir, Heinz» aus dem oberen Stock gerufen habe und aus dem Staub habe sie sich gemacht, sie wisse nicht warum. Den Rolf habe sie in der Not aufgesucht, der habe sie überzeugt, diesen Teufel in der Grube liegen zu lassen. Und es sei ihr noch wie Schuppen von den Augen gefallen, ihr Schal liege dort unten! «Den holen wir raus, das kriegen wir hin», habe ihr Rolf versichert.
«Und warum hat keiner den Heinz gefunden, Silvie? Man übersieht doch keinen Menschen in einer Trestergrube?» – «Davon ging ich auch aus, Karl. Aber die Grube ist tief und dunkel und es war noch kaum Trester drin. Und dann wurde mehr Trester angeliefert und aus den Tonnen gekippt, wer hat schon hinuntergeschaut? Wer hätte schon derjenige sein wollen, der etwas gesehen hat?» – «Und wer hat den Text ins Rebenblatt geschrieben? Will auch keiner eine Ahnung haben?»– «Weiss ich nicht, das war bestimmt die Ruth, die lässt das Blatt drucken und wollte uns nervös machen.»
Dann hat Silvie geschwiegen, einen kurzen Moment, nicht ihre Art. Darum hat sie gleich wieder gefragt: «Und was machst du jetzt, Karl? Wirst du reden?» Habe auch etwas gewartet mit der Antwort: «Kennst mich doch, Silvie, man ist es nicht gewohnt, dass ich rede. Ich fange nichts Neues an. Die Geschichte bleibt mein Geheimnis. Warum sollte ich sie erzählen? Wem auch?»