1989: eins neun acht neun

Eine Spontangeschichte, März 2024

Er war zum Stockbesitzer geworden. Gegen seinen Willen. Wie um alles in der Welt konnte mensch Besitzer eines Rebstockes werden, eines einzigen Exemplares, ohne Winzer oder Hobby-Gärtner zu sein und ohne überhaupt etwas mit dem Rebbau am Hut zu haben? Natürlich eines dieser Geburtstagsgeschenke, eines dieser Geschenke aus Verlegenheit, wie so oft. Was schenkt mensch einem Mann, der gerade ein weiteres Mal seine Freundin an einen anderen verloren hat, einem Mann, der dazu die Fünfzig erreicht, kinderlos, aber durchaus gut situiert und saturiert? Klar doch: einen Rebstock, was denn sonst?! Mensch geht hin, einmal im Jahr, zum Stockschneiden, im März, bevor das Rebengewächs ausschlägt, der Winzerpate zeigt einem wie das geht, das Zurückschneiden der überzähligen Triebe aus dem Vorjahr, mensch kriegt eine Flasche Wein, was dem üblichen Ertrag eines Stocks entspricht, dazu eine köstliche Verpflegung und noch einiges mehr. So geht Stockschneiden.

Aber was will Frank tun? Er mag seiner Mutter den Gefallen nicht verweigern. Sie besitzt schon lange einen Rebstock. Jedes Jahr fährt sie hin, ins Weingebiet und schneidet ihren Stock. Sie ist mächtig stolz, sie braucht mittlerweile keine Anleitung mehr. Glaubt sie zumindest. Und weisst du, da kommen Hunderte Leute wie du und ich, alles Stockbesitzer. Die vielen Winzer bringen ihre Weine mit, zum Probieren, das ganze Sortiment, ich schlürf mich durch alles durch, am liebsten die Rosés, und in der Vinothek nebenan gibts zur Auflockerung Kaffee und Kuchen, ich meine diesen superleckeren Kuchen aus den Küchen der Winzerfamilien, wie heisst er schon wieder? Ähm … Nidlechueche, Nidlechueche! Und da hats immer auch Vorträge für all die Angereisten, es soll niemandem langweilig werden. Das wär dann vor allem was für dich!

Also wird Frank hinfahren, die Mutter begleiten, denn sie will sich im Grunde genommen selbst beschenken, allein ist Stockschneiden halb so lustig. Er glaubt keine Wahl zu haben, er wird sich seinen Stock ansehen, der bereits seinen Namen tragen soll: Frank Krummenacher, umgehängt auf einem viel zu grossen Metallschild, als müsste der Google Earth Satellit davon Notiz nehmen können.

Er gibt sich keine besondere Mühe, lässt das Rasieren. Ausserdem ist er spät dran. Kurzen Blick noch in den Spiegel, wie immer bleckt er sich die Zähne entgegen, denn wenn er was vorzuzeigen hat, dann seine Zähne. Herr Krummenacher, sagt sein Zahnarzt immer, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Und dann fährt sein Zahnarzt fort, ohne eine Antwort abzuwarten. Neunzehnhundertneunundachtzig – eins neun acht neun, deklamiert er bedeutungsschwanger – da waren Sie das erste Mal bei mir, am Tag nach dem Mauerfall, Sie waren mein erstes Maul in der neuen Weltordnung, Mund, entschuldigen sie: Mund! Karies- und kommunistenfrei, was war das für ein Tag, ich seh Sie jungen Burschen noch vor mir. Bei Gott, fünfunddreissig Jahre ist es her und Sie haben immer noch die Zähne des Halbwüchsigen, der Sie damals waren. Nun ja, das Zahnfleisch macht da und dort etwas schlapp, aber alles in allem: einfach tipptopp. Wenn ich denke, Herr Krummenacher, dass Sie weder auf Alkohol noch Süsses verzichten und mir sagen, dass Sie die Zähne nur einmal am Tag putzen, dann muss ich sagen, robuster geht nicht. Sie können sich auf ihre Gene verlassen, ich rechne weiterhin mit keinem Loch!

Diesen Schwung nimmt Frank täglich mit, wenn er sich vom Spiegel trennt. Eins neun acht neun, flüstert er dann, sein kleines Zauberwort. Immer noch alles im Saft wie Neunzehnhundertneunundachtzig. Nicht restlos alles, das weiss er. Aber die Zähne schon. Und schön sind sie auch, gerade und wohlgerichtet. Jawohl, Herr Krummenacher. Und jetzt ab ins Weindorf ans Stockschneiden.

Mutter führt ihn von Weinstand zu Weinstand, zu den neuen Weinen der Winzer. Schon zum wiederholten Male. Sie hat ihre Brille an einem Stand liegen gelassen. Sie hat sich doch die Weinetiquette mit dem kleinen goldenen Ritter genauer ansehen wollen und die Brille hervorgeklaubt. Ein Weinhaus mit grosser Tradition, Jahrhunderte. Als hinge ein Amulett an der in Rosa schimmernden Flasche, hat es ausgesehen, noch ohne Brille. Sie wusste gleich, dass ihr der Schaumwein Glück bringen würde – er hat auch vortrefflich gemundet, mit jedem Glas mehr – und nun durfte sich diese Seligkeit nicht ins Gegenteil verkehren. Verlorene Brillen seien die Vorboten des Todes, die Relikte Verschwundener, warnt Mutter. Frank hat gar nichts gegen eine zweite Schlenderrunde, er hat schon seit einiger Zeit keine Weine mehr degustiert und was da an den Ständen auf den Tischblättern steht, will ihm sehr gefallen. Traditionelles, aber auch viele Spezialitäten. Jede Winzerin, jeder Winzer mit eigenem Profil. Baff ist er. Donnerwetter! Er ist kein Weinkenner, aber der Banause auch nicht, er zieht den Hut vor den Winzern und ihrer Weinqualität. Er lässt sich in Gespräche verwickeln, er will wissen, aus welchen Hängen die Tropfen stammen und was ihnen den Charakter gibt. Frank weiss, wie die Menschen zu nehmen sind, er fragt die Winzer, ob sie denn mit ihren eigenen Weinen zufrieden seien und wie sich diese mit denjenigen aus den Vorjahren verglichen. So bringt er sie ins Plaudern und erfährt gar manches. Sag mal, fragt Frank, als Mutter auf einmal mit der wiedergefundenen Brille fuchtelnd auftaucht, sollten wir nicht diese Stöcke schneiden gehen? Da im Rebland hinter uns? – Ach was, das mach ich gleich noch. Ich schneid deinen mit, geht ein paar Minuten, das kann noch warten. Trink nur ruhig weiter und in zwanzig Minuten ist dieser Vortrag im Rebhaus. Geh da hin, ist gleich da drüben. Der Professor macht eine zweite Runde, die Leute sagen, er sei oberlaunig, eine Wucht. Man dürfe sich seinen Vortrag nicht entgehen lassen. Achtzig, putzmunter, fit wie eine Sportsocke. – Dann kommst du mit? – Wo denkst du hin! Der spricht über Wein und klimatische Veränderungen und in letzterem kenne ich mich aus, glaube mir, mein Schatz, auch wenn das bei mir ein bisschen anders hiess, vor ein paar Jahren. Zum Glück ist das für mich vorbei mit diesen unerträglichen Hitze-Wallungen, tempi passati!

Wieder gehorcht Frank. Sie haben kein enges Verhältnis, er und seine Mutter. Also lohnt sich der Widerspruch nicht. Wozu auch? Und warum nicht etwas Spass haben beim kauzigen Professor, auf die Komplimente der Leute wird doch Verlass sein. Ausserdem: Klimawandel und Wein, da gibts Zusammenhänge, nicht uninteressant.

Der Saal im Rebhaus ist proppenvoll. Ein paar einleitende Worte vom Präsidenten des Rebvereins, dann spricht der Professor. Er ist ein kleines, knorriges Männlein, einem Senn gleich, braungegerbt von der Alpsonne, als käme er aus einer heilen Welt. Seine Stimme ist nicht laut und nicht tief, aber spitz und klar wie ein lieblicher Gesang einer Flöte oder Klarinette, er macht kurze Sätze, er spricht nicht wie ein Professor, sondern eher wie ein Handwerksmeister, der einleuchtend erklärt, wie eine komplizierte Maschine simpel in Betrieb zu nehmen ist. Einmal fällt ein Glas zu Boden im Saal und zerschellt klirrend. Die mucksmäuschenstillen Leute schrecken auf, als wäre ein ganzes Fenster zu Bruch gegangen, als sei eben eine böse Gewalt in ihren Frieden hineingeplatzt.

Auch Frank sitzt da, mitten im Geschehen. Auch er verfällt dem Charme des Professors. Wow, wie kann mensch achtzig sein und dermassen strahlen? Ein so wacher Geist, burschenhaft keck und übersprudelnd aus den Erfahrungen eines reichen Lebens!

Auf einmal sehnt sich Frank unendlich danach, noch lange zu leben und in dreissig Jahren auch so dazustehen. So busper, so wach. Auch er ist heftig aufgeschreckt, als das Glas zerbarst im Saal, sein Herz pocht noch immer. Sowas soll nicht passieren, mitten im spannenden Vortrag. Und seit dem Zischen des Glases fühlt er etwas noch nie Dagewesenes: Es pikst in seinem Mund, sehr unangenehm, ein Druck in Richtung rechtem Oberkiefer, als befände sich da nun ein Splitter des zerbrochenen Glases. Sind das Zahnschmerzen, fragt er sich unbewusst? Nein, kann nicht sein. Nicht bei mir! Alles in Ordnung seit Neunzehnhundertneunundachtzig.

Ein ganzes Jahrtausend überblickt der Professor. Eintausend lange Jahre der Klimageschichte in Europa. Sein Team gehört zu den führenden Klimaforscherinnen und -forschern weltweit. Und sie sind soweit: Auf fünfhundert Seiten haben sie ihre Erkenntnisse vor Kurzem publiziert. Der Wälzer liegt vorne auf dem Rednertisch.

Und dann erzählt der Professor vom Auf und Ab der Klimageschichte in Europa seit der vorletzten Jahrtausendwende. Auf den Folien, die er zeigt, sieht es immer gleich aus, lange Reihen von Jahrzahlen, in vertikalen Balken dargestellt. Die einen Balken sind rot für wärmere Perioden, sie zeigen in die Höhe, die anderen blau für kältere Phasen, sie laufen nach unten. Es ist aber, als wäre da eine Balance, Rot und Blau halten sich die Waage. Es gab milde Jahrhunderte, da reiften Zitrusfrüchte und Oliven nördlich der Alpen bis hoch in die Breitengrade um Köln (ausnahmsweise Gemurmel im Saal), es gab frostige Zeiten, da erreichten die Gletscher das Flachland. Das führt der Professor mit Beispielen aus, er zeigt anschaulich, warum wir das alles wissen, wie Mönche in Klosterkammern jährlich den Wetterverlauf beschrieben, wie die Menschen in den Bergtälern die Veränderungen der Baumgrenzen die Jahrzehnte hindurch dokumentierten oder wie die Natur ihre eigenen Tagebücher schreibt, in Baumrinden und in Luftbläschen, eingeschlossen in uraltem Eis. Und er beweist ebenso, warum sich die Wellenbewegungen der langen Klimageschichte erklären lassen. Die Erde dreht nicht immer gleich um die Sonne, ihre Laufbahn ist mal elliptischer, mal runder. Die Achse unserer Kugel ist nicht immer gleich schräg. Das heisst, die Sonne ist nicht immer gleich warm. Es hat nicht immer gleich viel Eis auf dem Planeten.

So war das zumindest.

Dann kam Neunzehnhundertneunundachtzig. Mauerfall. Dammbruch. Von da an ist die Balance weg. Es zeigen sich keine blauen Balken mehr, keine Ausreisser nach unten. Die frostigen Jahre sind vorbei. Obwohl! Es müsste sie zuhauf geben, denn eigentlich wären kalte Jahrzehnte angesagt, Sonne und Erde sind sich etwas weniger nah als in anderen Jahrhunderten. Eher Eiszeit als Wärmeperiode müsste herrschen. Eher saurer Wein, denn hohe Öchsle-Grade.

Jetzt macht der Professor die Beweisführung. Wie die Energie für unseren Konsum ab den Fünfzigerjahren spottbillig wurde, wie Erdöl und Erdgas den Kohlendioxidausstoss explodieren liessen und wie wir die Solarforschung fünfzig Jahre ruhen liessen, weil es ja keinen Grund gab, die Energie nicht mehr zu verschwenden und nach Alternativen zum fossilen Brennstoff zu suchen. Sie fehlten uns jetzt, diese wichtigen fünfzig Jahre, konstatiert der Professor, denn wir müssten vorausschauend handeln, das Klima reagiere mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung. Die wahrhaftige Quittung warte erst auf uns.

Frank weiss gar nicht, was er denken soll.

Seit Neunzehnhundertneunundachtzig haben die klimatischen Veränderungen an Tempo zugelegt, die Wissenschaft hat eigens dafür einen Begriff ausgesucht – so erfahren die Leute im Saal –, sie nennt das Phänomen den «raschen Klimawandel». Rasch, was soll das heissen? Und wenn der heutige Wandel um Jahrzehnte verzögert ist, was kommt dann in zehn oder zwanzig Jahren?

Seit Neunzehnhundertneunundachtzig kriegt Frank jährlich die Bestätigung vom Mann im weissen Kittel: alles wie immer, alles intakt, alles blendend weiss. Und jetzt wächst sich der Schmerz in seinem Mund zum Stechen aus, als wär ihm doch eine Glasscherbe zwischen die Zähne geflogen, als bohrte sie sich in seinen rechten Oberkiefer. Eins neun acht neun, der Zauber scheint verflogen: doch nicht unanfechtbar, sein immer noch ganz naturbelassenes Bollwerk der Zähne?

Der Professor wirft zum Schluss einen Blick in die Zukunft. Er nennt die bekannten Phänomene eines aus den Fugen geratenen Klimas. Aber er zeigt keine Zurückhaltung, er setzt noch einen drauf. Auf seiner letzten Folie steht: «Plus 8 Grad Klimaerwärmung?» Rote Balken in ungeahnten, noch nie erreichten Höhen. Er hält es für ein mögliches Szenario in der Fortsetzung seiner eintausendjährigen Klimageschichte. Ob es dann noch Weine geben wird, das will er nicht sagen. Vielleicht schon, vielleicht anderswo. Er überlässt die Antworten den Weinexperten. Die mögen dazu kaum antworten. Sie freuen sich am neuen Klima, dem heutigen. Es sei ideal für viele Rebsorten, besser denn je. Der Zuckergehalt der Trauben sei seit den Neunzigerjahren deutlich gestiegen. Da und dort – sage und schreibe – zehn volle Öchsle-Grade. Das habe dem Wein zu seiner aktuellen Güte verholfen. Die alten saure Weine, sie gehörten der Vergangenheit an. Letztes Jahrhundert.

Frank hat noch eine weitere Runde an den Ständen gedreht. Mutter wollte unbedingt auch den Rotweinen noch eine Chance geben. Sie hat nicht lange nach dem Vortrag gefragt, sie wollte nur wissen, ob die Geschichten vom Professor wirklich so kurzweilig und unterhaltsam seien und ob er so wahnsinnig viel wisse, wie erzählt werde. Aber fünfhundert Seiten Klimabuch, sowas würde doch keiner lesen.

Und hast du unsere Stöcke geschnitten, Mutter? – Ach, das wird schon einer gemacht haben, lass uns zum Schluss noch richtig anstossen!

Frank hat seinen Zahnschmerz nicht mehr weggekriegt, auch nach langen Wochen nicht. Da und dort kleine Fissuren an den Zahnhälsen, aber nicht der Rede wert, der Zahnarzt behauptet, sich ihrer angenommen zu haben. Der Rest sind die Nerven, Herr Krummenacher, da bin ich nicht mehr der richtige Mann. Vielleicht der Neurologe? Am Ende der Psychiater? Oder, mit Verlaub, einfach eine neue Freundin? Ihr Schmerz kommt von anderswo, weiss auch nicht, was da am Stockschneiden in Sie gefahren ist. Ach ja, ich kenn da sonst einen guten Hypnotiseur, also, wenn Sie wollen, geb ich Ihnen die Adresse. Was ich höre, hat er so manchem Schmerz den Garaus gemacht. Wir gönnen uns doch ein sorgloses Leben, Herr Krummenacher, nicht wahr?

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